Rechter Schulterblick
130 Mio. Menschen haben gewählt – und das Ergebnis ist ... historisch.
Paukenschlag, Rechtsruck
Nach der Wahl am 9. Juni 2024 kommt der Rechtsaußenblock erstmal auf knapp ein Viertel der Sitze im Europäischen Parlament. Ob die PiS in Polen (36 %), die RN in Frankreich (31 %), die FdI in Italien (29 %) oder die FPÖ in Österreich (25 %): Gerade in Mitteleuropa verschiebt sich das politische Spektrum.
Superwahljahr
Vor allem auf Österreich und Frankreich wird geguckt, da dort die Parlamentswahlen anstehen. Im Letzteren sogar bereits am 30. Juni / 7. Juli, da Präsident Macron nach dem schwachen Ergebnis zur Europawahl (15 %) noch am selben Abend beschlossen hat, das Parlement français aufzulösen.
Siegeszug
Ob ihm das Sympathie einbringt? Wohl kaum. Einige Umfragen sehen das Rassemblement National bald schon die absolute Mehrheit holen. Und auch in Österreich legt die FPÖ in aktuellen Umfragen (14. Juni), mit weiteren drei Prozentpunkten im Vergleich zur Europawahl, eher zu.
Zeitenwende?!
In Deutschland sieht’s ähnlich aus. Oder wie BILD gewohnt-reißerisch titelt: „Kanzler-Klatsche! Ampel-Abreibung!” – „AfD hat abgesahnt”. Vor den Landtagswahlen begeben wir uns deswegen in einem Interview mit Unteilbar Südbrandenburg auf die Suche nach dem Hintergrund dieses Wandels.
Ein Zeichen für eine solidarische und offene Gesellschaft setzen. Dafür hat Unteilbar Südbrandenburg unter anderem am 2. Juni in Cottbus trotz Nässe demonstriert. Ging es für sie dann eine Woche später direkt vom Regen in die Traufe? Wir werten die aktuelle Lage mit einem Sprecher von Unteilbar Südbrandenburg aus:
Was war deine erste Reaktion auf die Wahlergebnisse vom 9. Juni?
Ich war zunächst überrascht, aber im nächsten Moment überrascht, dass ich überhaupt überrascht war.
Rechtsextremer Verdachtsfall, Potsdam, Spionagevorwürfe und ein Rauswurf aus ihrer Fraktion im Europaparlament … Warum holte die AfD trotzdem bundesweit Platz 2 und im Osten sogar Platz 1?
Gute Frage. Kurz nach der Wahl sagte jemand, dass die AfD selbst mit einem Hamster als Spitzenkandidaten so viele Stimmen geholt hätte ...
Wir leben in einer Zeit mehrerer, in dichter Folge auftretender Krisen, die uns als Gesellschaft zu Verhaltensanpassungen zwingen: 2019 kam die Pandemie, kurz darauf griff Russland die Ukraine an, weltweit sind inzwischen rund 120 Millionen Menschen auf der Flucht vor Kriegen und Katastrophen oder auf der Suche nach einem Leben in Frieden und Wohlstand, die Klimakatastrophe wird gerade greifbare Realität, ...
Genauso wie die Grünen an Stimmen, hat Klima- und Umweltschutz zu 40 % an Einfluss verloren – wichtiger nun: Sicherheit.
Es scheint, dass sich viele Menschen von den gesellschaftlichen Veränderungen gestresst fühlen. Das ist nachvollziehbar. Aber die Antwort auf drängende Fragen kann nicht sein, die Augen vor dem Klimawandel zu verschließen, gendergerechte Sprache zur Bedrohung unserer Zivilisation zu erklären und Deutsche mit Migrationshintergrund zu deportieren, so wie Politiker:innen der AfD es sich kürzlich wünschten. Anstatt auf Minderheiten und sozial geschwächten Gruppen herumzuhacken, sollten wir über eine Umverteilung der unglaublichen Vermögensungleichheit in Deutschland diskutieren.
Angst und Hetze sind keine guten Berater für die Zukunftsgestaltung. Wir als Unteilbar verteidigen Demokratie und Menschenrechte und wollen ein gutes Leben für alle.
Mit minus 23 % ist die Misere der Grünen unter jungen Wählenden besonders ausgeprägt, während die AfD ihr Ergebnis verdreifacht.
Nicht nur im Osten, sondern auch bei einer weiteren Bevölkerungsgruppe schneidet die AfD stärker ab: bei den Jüngeren. Liegt das nur an der starken Social Media Präsenz der AfD, oder gibt es noch weitere Gründe?
In Deutschland haben 16 % der Jugendlichen die AfD gewählt, wir sollten nicht die 84 % vergessen, die ihre Stimme Parteien gegeben haben, die sich zum freiheitlich-demokratischen System Deutschlands bekennen.
Social Media ist ein Grund für den Stimmenzuwachs der AfD, aber nicht der einzige. Viele Heranwachsende konsumieren täglich viele Stunden soziale Medien. Auf TikTok beispielsweise kann die AfD ungefiltert ihre Ideologie verbreiten. Hierbei macht sie sich die Aufmerksamkeitsökonomie der sozialen Medien zunutze, indem bestimmte Themen zu vermeintlichen Skandalen aufgebauscht werden oder eine Sprache benutzt wird, die nicht selten an der Grenze zur Strafbarkeit ist. Auch ist in den vergangenen Jahren bekannt geworden, dass die AfD teilweise von Netzwerken an Social Bots unterstützt wird, die Memes und Videos automatisiert liken und kommentieren. Hierdurch wird den Algorithmen Relevanz vorgetäuscht, so dass bestimmte Beiträge in den Feeds vieler Nutzer:innen landen. Viele Heranwachsende haben noch keinen Vergleichsrahmen, um das erkennen und einordnen zu können.
Der AfD wirft man oft vor, den komplexen Themen unserer Zeit wie Migration oder Krieg mit einfachen Antworten zu begegnen. Warum kann das aber nicht auch den anderen Parteien gelingen?
Weil es so einfach nicht ist. Politik besteht aus zuhören, miteinander reden, kompromissbereit sein, Mehrheiten finden, …
Die Vorschläge der AfD sind keine Lösungsangebote. Sie sind oft nicht einmal mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar. Die meisten AfD-Wähler:innen wählen entgegen ihrer eigenen ökonomischen Interessen. Die AfD will eine stärkere Umverteilung von unten nach oben, es ist ironisch, dass sie sich als Partei der Arbeiter:innen und der kleinen und mittleren Unternehmen inszeniert. Regional setzen sich AfD-Vertreter:innen strategisch auf Bürgerproteste oben drauf. Es ist absurd, dass sich die AfD als Sympathisantin der Bauernproteste inszenieren konnte, wenn sie gleichzeitig für die Abschaffung der Subventionen für Bauern ist. Man könnte Bücher füllen mit Faktenchecks über gelogene und verzerrte Aussagen von AfD-Politiker:innen – allein die AfD-Wählerschaft ignoriert das. Es geht ihnen nicht mehr um Fakten oder sachpolitische Lösungen und daher haben wir aufgehört, inhaltlich auf die Aussagen der AfD einzugehen.
Wir wollen nicht die Regierungspolitik erklären oder vermitteln. Es spricht leider auch nicht gerade für die aktuelle Politik, wenn die Regierungsparteien so schlecht abgeschnitten haben gegen eine in großen Teilen gesichert rechtsextreme Partei mit Politiker:innen, gegen die Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung, illegalen Parteispenden und Spionage für China laufen.
Obwohl EUROPAwahl war, zeigt sich, dass vor allem die Bundespolitik und damit der Zustand der Ampel das Wahlverhalten beeinflusst hat.
Studien zeigten, dass die Ampel einen Großteil ihrer Koalitionsversprechen auch umsetzt, trotzdem ist sie historisch unbeliebt. Liegt das an den Versprechen selbst oder wo liegt der Hase im Pfeffer?
Gute Frage. Die Diskrepanz zwischen Regierungshandeln (auch im Land Brandenburg) und der Wahrnehmung und Bewertung durch die Bevölkerung ist auffällig. Die Bundesregierung stand kurz nach Beginn ihrer Arbeit vor einer Reihe unvorhergesehener Ereignisse, auf die sie reagieren musste. Viele lang erwartete Themen aus dem Koalitionsvertrag mussten sich da hinten anstellen. Außerdem scheint sie nicht gerade die erfolgreichsten Kommunikationsstrategien zu haben. Die AfD höhnt aus der sicheren Oppositionsrolle und versucht das Vertrauen in die demokratischen Institutionen zu verunsichern.
Ende 2023 zeigte eine Analyse der Bertelsmann Stiftung, dass die Halbzeitbilanz der Ampel gar nicht so schlecht ausfällt. Schon zwei Drittel ihrer Koalitionsversprechen hatten sie entweder umgesetzt oder angefangen, was mit 174 Versprechen 20 Stück mehr waren als bei der Vorgängerregierung. Früchte in Sachen Beliebtheit scheint dies aber nicht zu tragen – die Ampel erzielt hier historisch schlechte Werte.
Oft konfrontieren die anderen Parteien des Bundestages die AfD mit Nazi-Narrativen statt mit faktenbasierter Kritik an ihrem Wahlprogramm. Zieht die „Nazi-Keule“ bei den Wählenden überhaupt noch?
Die Nazi-Narrative vertritt die AfD selbst, die kommen nicht von außen. Wer faschistische Positionen vertritt, muss damit leben, als Faschist bezeichnet zu werden. Genau das ist faktenbasierte Kritik. Alles andere wäre Verharmlosung.
Mit zwei Dritteln hält noch ein Großteil der Bevölkerung die AfD für rechtsextrem und gut ein Drittel ist als Konsequenz sogar für die Einleitung eines Verbotsverfahrens. Wollen die anderen Parteien das Ruder allerdings noch politisch rumreißen, ist anscheinend baldiges Handeln gefordert, da sich die Werte innerhalb von nur einem halben Jahr stark zu Gunsten der AfD verändert haben.
Inwiefern werdet ihr von Unteilbar Südbrandenburg zukünftig politisch aktiv?
Wir als Unteilbar Südbrandenburg werden weiter eine Stimme sein für die großen Teile der Bevölkerung, die es nicht hinnehmen werden, dass die Errungenschaften unseres demokratischen Systems von der AfD bedroht werden. Am 14. September wird eine große Kundgebung in Cottbus stattfinden, mit der wir zeigen, dass wir zusammen stehen für Demokratie und eine solidarische Gesellschaft.
Wir danken für das Interview. Folge Unteilbar auf Instagram:
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Unteilbar-Demo am 21.1.24 in Cottbus, zum Erhalt der Brandmauer